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Dystopien als Spiegel

Der wahre Kern von Dystopien

George Orwell hat seinen Roman „1984“ genau genommen zwischen 1946-1948 geschrieben. Die Welt, die er im Jahr 1984 skizziert, ist eine Dystopie, eine fiktive düstere totalitäre Gesellschaft. Für mich bleibt 1984 eines der beeindruckendsten Bücher, welches ich je gelesen habe. Der Inhalt und die Interpretationsmöglichkeiten des Romans sind jedoch komplex, sodass ich eine klassische Rezension nicht als ausreichend empfinde, sondern diskutieren möchte. Ich bin der Meinung, dass man das Buch unbedingt lesen und sich so jeder selbst ein Bild machen sollte. Danach versteht man einerseits geschichtliche Entwicklungen besser, zumal deutlich wird, dass George Orwell in der Dystopie Grundzüge der NS-Ideologie mit einfließen lassen hat. Auch die Entwicklungen in den sozialistischen Staaten der Sowjetunion und DDR skizzierte George Orwell weiter, die in der Retrospektive gesehen, oft (erschreckend) wahr zu werden schienen. Andererseits gewinnt man vor allem einen Eindruck von der realen internationalen Welt. 1984 ist eine Welt, die in vielen Ländern sicher Parallelen findet, aber für mich insbesondere auch in Nordkorea immer mehr Gestalt annimmt.

Aktuell kristallisiert sich ein erneuter Nordkoreakonflikt heraus – Nach Drohungen Nordkoreas reagierte Trump mit „Feuer und Zorn“. Nun wurde diesmal sogar ein unangekündigter Raketentest durch Pjöngjang über Japans Territorium hinweg in den Pazifik durchgeführt. Japan appellierte daraufhin bereits an die internationale Gemeinschaft, dass man Nordkorea als zunehmende Bedrohung betrachten sollte. Der UN-Sicherheitsrat kritisierte das Manöver zutiefst. Als Reaktion hielten die USA und Südkorea in den jüngsten Ereignissen nun gemeinsam eine Militärübung ab.

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„1984“ von George Orwell – Der Klassiker unter den Dystopien

 

Was ist eine Dystopie?

Was genau bedeutet überhaupt Dystopie? Ein Exkurs: In Dystopien wird eine Welt gezeigt, die so wie wir sie jetzt kennen, nicht mehr existiert. Es sind düstere Zukunftsvisionen. In der Literatur ist die Dystopie (griech. dys = schlecht, topos = Platz) das Gegenstück zur Utopie und zeigt ein Gesellschaftsbild, dass sich in der Zukunft zum Negativen entwickelt. Häufig ist es eine Welt, die von einem totalitären Staat regiert wird und die Menschen ihrer Freiheiten beraubt werden. Jedoch auch Maschinen und technische Fortschritte sind häufig wesentliche Elemente eines dystopischen Weltbildes. Sie werden vom Menschen erzeugt, aber geraten letztendlich in ihren Dimensionen außer Kontrolle. Gezeigt werden soll meist, was die Macht und Kontrolle von Menschen ausrichten können. Utopie und Dystopie beschreiben sowohl als auch zwar fiktive Gesellschaftsbilder, deren Grundzüge jedoch aus der Realität entlehnt sind. So weit hergeholt sind sie manchmal gar nicht.

Die Welt von 1984

Die fiktive Welt im Roman 1984 ist in drei Machtblöcke aufgeteilt, die im Krieg stehen – Ozeanien, Eurasien und Ostasien. Ozeanien ist ein totalitärer sozialistischer Staat, in dem die Handlung des Buches spielt. „Big Brother is watching you“ – diese Textzeile prangert unter Plakaten, die eigentlich überall hängen. Es zeigt ein Gesicht in Großaufnahme: Es soll der Große Bruder sein, welcher in der Öffentlichkeit jedoch kaum sichtbar und dennoch omnipräsent ist. Die Proles, die Mehrheit der Bewohner, werden einer Gehirnwäsche unterzogen. Ihnen werden zum Beispiel doppelte Schokoladenrationen gestrichen, damit sie sich dann später über eine neue Ration freuen können. Parolen wie „Freiheit ist Skalverei“ oder „Krieg ist Frieden“ bestimmen den Alltag. Die neue Sprache, die nach und nach im Staat eingeführt werden soll, „Neusprech“, hat das Ziel, differenziertes Denken zu verhindern. Vokabeln wie Freiheit werden gestrichen. Denn wenn jemand das Wort Freiheit nicht kennt, wie soll er es dann denken können?
Der Protagonist Winston Smith arbeitet im Propaganda-Ministerium der Staatspartei, „Das Ministerium der Wahrheit“. Er ist dafür zuständig, Bücher zu Geschichte umzuschreiben, je nachdem wie sie gerade verläuft, mit wem man derzeit verbündet ist oder im Krieg steht. Totalitäre Staaten brauchen Feindbilder, immer gerade das, welches am besten passt. Auch wenn Smith ein einfaches Mitglied der Staatspartei ist, so steht er ihr kritisch gegenüber. Er beginnt Tagebuch zu führen und seine Gedanken und gemischten Gefühle zum System aufzuschreiben. Julia, auch ein Parteimitglied, teilt seine Gedanken. Sie tauschen sich über Briefe aus und verlieben sich. Denn den Wunsch nach Freiheit kann man auch spüren, selbst wenn man es nicht denken soll. Doch der große Bruder sieht alles… Allein kritische Gedanken sind strafbar im Jahre 1984.

Schreiben wir das Jahr 1984 gefühlt immer wieder?

Die Dokumentation „Im Strahl der Sonne – Inside Nordkorea“ (Ausschnitt) veranschaulicht, wie das System Nordkoreas nach innen funktioniert. Ein Journalistenteam durfte ein Mädchen und seine Familie ein Jahr begleiten, wobei sie sich allerdings an ein strenges Drehbuch halten mussten. Die Familie schien dafür in eine vorzeigbare Wohnung gezogen zu sein und die Eltern übten andere Tätigkeiten für den Film aus. Ingenieur einer Textilfabrik entsprach womöglich mehr dem Idealismus als der Beruf des Journalisten.  Kim Jong-Un ist in Nordkorea überall präsent, jeder ist dem Führer ergeben. Das Leben wird nach ihm und dem System ausgerichtet. Bilder der Kim-Dynastie hängen in der Öffentlichkeit wie auf großen Plätzen, in der Straßenbahn oder in den Betrieben. In den Schulen werden Hassparolen gelehrt, vor allem gegenüber den Feinden Nordkoreas wie Japan und den USA. Selbstentfaltung und Freiheit sind hingegen fremd. Ein einziges Mal gelang es dem Reporter-Team, ohne Aufpasser dem Mädchen Fragen zu stellen. Sie fragten, wie sie sich nun als Jungpionier zukünftig ihr Leben vorstelle.  Sie begann zu weinen. Erst als sie ein Gedicht aufsagen durfte, beruhigte sie sich wieder. Ein eigenes Bild von einer Zukunft oder gar das Gefühl, frei zu entscheiden, schien dem Mädchen fremd. Wenn man Freiheit wie in 1984 nicht sagen darf, kann man es denken? Denken kann sie es womöglich, aber weiß sie, was es bedeutet frei zu sein, was Freiheit ist? – Könnte sie es sagen?

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Der aktuelle Nordkoreakonflikt als Anwendungsbeispiel

Was vor allem in der Realität wie auch in der Welt von 1984 immer ganz gut funktioniert: Ein Feindbild. Der aktuelle Konflikt zwischen Nordkorea und den USA zeigt Parallelen auf, wie Feindbilder instrumentalisiert werden können.

Beide Seiten sind kritisch zu betrachten, selbst wenn der Angriff von Nordkorea ausging. Die USA verteidigt sich. Sie neigt aber vor allem dazu, wie in der Vergangenheit öfter gezeigt, gern den Retter der Welt zu spielen. Dabei sollte, wenn, die internationale Gemeinschaft geschlossen reagieren. Trump selbst spielt zudem innenpolitisch mit Fake News und Feindbildern, um in seiner Politik Macht zu gewinnen. Der Klassiker 1984 klettert in den USA nicht ohne Grund seit dem Präsidentschaftsantritts Trumps wieder auf die Bestsellerliste.

Dystopien halten den Spiegel vor

Ideologien haben oft eine Faszination, die erst einmal begeistert. In den Köpfen entsteht ein Bild einer besseren Welt, einer Utopie. Problematisch wird es jedoch, wenn diese vermeintlich „bessere Welt“ ohne Angst, Terror und Feindbilder nicht auskommt. Sehr schnell kann sich die Begeisterung für eine Ideologie oder Staats- und Herrschaftsform  zu einem Wahn entwickeln, was letztendlich der Nährboden für eine Schreckensherrschaft und Diktatur bildet. Deswegen sollten wir öfter die Warnleuchten beachten. Dystopien halten uns den Spiegel vor, in den wir in der Realität ungern schauen wollen.

Unsere reale internationale Welt spiegelt umgekehrt wider, dass dystopische Szenarios, selbst wenn sie starke fiktionale Züge aufweisen, oft einen wahren Kern haben. In „Er ist wieder da“ von Timur Vernes (2012) erwacht Hitler Jahrzehnte später erneut zum Leben. Da ihn niemand, aufgrund der Unmöglichkeit der Situation, für den echten Hitler hält, gelingt es ihm als You-Tube Star langsam wieder berühmt zu werden und erneut Leute für sich zu begeistern. Das Szenario ist an sich unmöglich, zeigt aber grundlegend, dass auch heute noch rechtsextreme Ideen Begeisterung finden können und wir Acht geben müssen, damit sich Ereignisse aus der Geschichte nicht wiederholen können.

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Dystopien als Spiegel der Realität

In „Die Tribute von Panem“  von Suzanne Collins (2008-2010) gelingt es dem Diktator Präsident Snow seine Welt Panem vor allem durch Angst und Zwang zu kontrollieren. Die tödlichen Spiele, denen sich Katniss Everdeen als Tribut stellen muss, sind die Kür der Perversität der Schreckensherrschaft.  Neu aufgelegt und als Serie in den USA „The Handmaid’s Tale“ gedreht wurde „Der Report der Magd“ von Margaret Atwood, eine frauenverachtende Dystopie. Aufgrund nuklearer Katastrophen gibt es nur noch wenige fruchtbare Frauen, deren einzige gesellschaftliche Aufgabe das Gebären von Kindern sein soll. Die Gleichberechtigung von Frauen und Männer ist ein stetig brisantes Thema unserer Gesellschaft. Der Roman entstand bereits 1985 und zeigt wie das Buch 1984, dass solche gesellschaftskritischen Bücher zeitlos sind. Ich habe unbedingt vor, es in nächster Zeit zu lesen.

Mich faszinieren Romane über Dystopien ganz allgemein, da sie uns versteckt etwas über unsere wirkliche Welt verraten und uns Signale geben.  1984 als Klassiker ist ein Vorbild für viele moderne Dystopie-Bücher. George Orwell veranschaulicht grundlegend in seiner beeindruckenden Dystopie die Gefahren von Menschen und ihrem gefährlichen Instrument Macht. Das sollten wir uns in der realen Welt immer wieder vor Augen führen. Dystopien sollten nicht die Realität werden, sondern allein ein Spiegel bleiben!

Ich habe mich in diesem Artikel vor allem auf 1984 beschränkt und nur wenige weitere Dystopien erwähnt, da alles andere den Rahmen sprengen würde. Da es aber noch viele weitere Buchempfehlungen über Dystopien gibt, werde ich euch einmal Listen unten verlinken.
Habt ihr 1984 schon gelesen, wenn ja, was hat euch besonders beeindruckt? Welche anderen Dystopien faszinieren euch so und wo seht ihr jeweilige Parallelen in der Realität?

Quellen und weiterführende Links

Wortfuchs: Definition Dystopie und Bücherliste

Lovelybooks: Die besten Dystopien

Was liest du? – Magazin: 20 mitreißende Dystopien

Petra Kolonko: Kim Jong-uns Kalkül, in: FAZ (201/2017). S. 1,5.

Spiegel-Online: US-Bomber fliegen Manöver nahe Nordkorea (31.08.2017)

FAZ-Online: Darum wird „1984“ plötzlich wieder zum Bestseller (01/2017)

Welt-Online: Dossier Nordkoreakrise
Bundeszentrale für politische Bildung: Im Strahl der Sonne, ganzer Film (2015)

Ein weiterer empfehlenswerter Titel von George Orwell: Die Farm der Tiere/ Animal Farm – Deutschlandfunk – Zeitlose Parabel über Macht

Außerdem ein Serien-Tipp: „The Man in the High Castle“, eine Original Amazon-Prime-Serie zum Thema: Was wäre, wenn die Nazis und Japaner den Krieg gewonnen und die Welt untereinander aufgeteilt hätten? Tagesspiegel – The Man in the High Castle in deutscher Fassung. Die Idee ist gar nicht so weit hergeholt

Film-Tipp: Bestseller „Der Circle“ von Dave Eggers (2013) verfilmt mit Emma Watson und Tom Hanks – Erscheinungstermin: 07. September 2017

 

13 Kommentare zu „Dystopien als Spiegel

  1. Hi Luise,

    ein wirklich, wirklich toller Beitrag 😀
    1984 ist meine Lieblingsdystopie (hm, di Kombination sieht irgendwie komisch aus…)!
    Gerade gestern haben ich mich lustigerweise über dystopische Züge in aktuellen Jugendromanen unterhalten (ich denke da an Panem, Maze Runners, aber auch viele andere). Das finde ich eine sehr spannende Entwicklung! Meine Cousine hat letztes Jahr eine Hausarbeit über die Medien- und Medienverzerrung in Panem geschrieben, das war wirklich superspannend. Eigentlich schade, das solche beliebten Bücher nicht mal unter solchen Aspekten im Schulkontext untersucht werden…
    VG Jennifer

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    1. Das Hausarbeitsthema klingt tatsächlich sehr spannend! Solche Bücher sollten meiner Meinung nach viel öfter Lektüre an Schulen sein! 1984, aber auch Tribute von Panem bieten sich da wunderbar an. Vielleicht hast du ja auch Lust mal einen Artikel über dystopische Züge in Jugendromanen zu screiben? Mich würde das mehr als interessieren. Liebe Grüße Luise

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      1. Ich bin da beileibe auch keine Expertin, aber vielleicht frag ich meine Cousine mal, ob sie Lust auf einen Gastbeitrag hätte. Sie ist da auch näher dran, seit einigen Jahren lese ich kaum noch Jugendbücher und kenne mich daher auch zu wenig mit den Neuerscheinungen aus…
        Aber man soll ja niemals nie sagen. Vielleicht überkommt es mich in einigen Wochen doch 😉
        VG Jennifer

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  2. Hallo,
    ein sehr toller Beitrag. Ich liebe es auch Dystopien zu lesen und zwar aus genau dem Grund, den du auch nennst, weil sie uns etwas über unsere jetzige Welt verraten. Und meistens bin ich einfach geschockt, weil man sich diese Zukunftsversionen so gut vorstellen kann.
    Liebe Grüße
    Diana von lese-welle.de

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    1. Deshalb bin ich auch auf „The Circle“ gespannt. Ich möchte es entweder lesen oder zumindest den Film schauen. Das sind ja Zukunftvisionen, die sich tatsächlich sehr realistisch aus unserer heutigen Welt heraus entwickeln können….

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      1. Ich habe das Hörbuch gehört und ich kann nur sagen, dass ich mir das soooo gut vorstellen konnte. Echt gruselig!
        Bin jetzt total auf den Film gespannt.

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  3. Ich habe mich während meines Englisch Abis mit Dystopien beschäftigt, wo wir unter anderem 1984 und The Handmaid’s Tale (der Report der Magd) behandelt haben. Mich hat das damals sehr beschäftigt und die Bücher werden von mir jedem Leser empfohlen.

    Vor knapp zwei Jahren habe ich „The Circle“ gelesen, was m ich zutiefst beunruhigt hat. Vor allem dieses Jahr scheinen Dinge wahr zu werden, die in dem Buch beschrieben werden. Dabei ist das schlimmste, dass diese Zukunftsvision von uns tweilweise „gewollt“ ist, beziehungsweise wir dem nichts entgegenstellen. Facebook und Google haben mehr Macht als die meisten von uns glauben oder sich eingestehen wollen (mich eingeschlossen)…

    Dein Beitrag hat mich sehr angesprochen und ich fand auch deinen Bezug zu Nordkorea sehr spannend und detailliert!
    Liebe Grüße

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    1. Ich bin sehr gespannt auf The Circle, ein Buch, das ich leider noch nicht gelesen habe. Aber im jeden Fall werde ich den Film anschauen, da in der beschriebenen Welt die dystopischen Züge wirklich zukunftsnah scheinen bzw. in Teilen schon Realität sind. Du hast es sehr treffend beschrieben, dass wir mit unserem pro-digitalen Verhalten die negativen Entwicklungen mit fördern. Wir sind Menschen, wir sind träge und Gewohnheitstiere. Wir wollen es so einfach und bequem wie möglich. Da haben manche Konzerne leichtes Spiel. Aber ich glaube auch, z. B. was Facebook und Google betrifft, dass wir oft gar keine Wahl haben. Wir können es entweder boykottieren ( als Blogger und Digital Nativ eher keine Option) oder müssen die Speicherung personenbezogener Daten und Transparenz akzeptieren – irgendwie ist das fast schon dystopisch… Danke für deine so differenzierte Meinung!

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